Von Bernd Kullmann, Geschäftsführer von Deuter
Als die Babys laufen lernten
Häufig werde ich gefragt, woher denn die Ideen für neue Deuter Produkte kommen. Die Entstehung unserer Kinderkraxen ist ein gutes Beispiel dafür.
Meine Frau und ich entschlossen uns recht spät dazu Nachwuchs in die Welt zu setzen. Zu sehr hatten wir die Jahre davor das Ungebunden sein genossen und waren intensiv in den Bergen beim Klettern und auf Skitouren unterwegs gewesen. Der Einschnitt war dann gerade für Ingrid umso größer – mit dem Buggy als Transportmittel waren die Radien vom Auto weg zum Fels doch sehr eingeschränkt. In einer Fabrik in Asien entdeckte ich dann den einfachen, aber genialen Ausweg – eine Kinderkraxe wie sie bei uns anfangs der 90er wenig bekannt war. Das Modell einer amerikanischen Marke war zwar unbequem, aber die Mobilität mit dem Schreihals am Rücken dafür schier grenzenlos, gemeinsame Tage im Klettergarten nahmen wieder stetig zu.
Als dann der zweite Balg im Hause Kullmann eingetroffen war, sah ich mich genötigt, selbst ein solches Tragebehältnis in Angriff zu nehmen. Dabei musste für ein großes Problem eine Lösung gefunden werden – die Rückenlänge des „Amerikaners“ passte mir, aber nicht meiner kleineren Frau. Ergo musste das neue Deuter Produkt eine verstellbare Rückenlänge aufweisen. Der langjährige Produktionspartner und Freund S. H. Oh hat mich, wie häufig bei solchen Gesprächen über neue Produktideen, mit einer Mischung aus Entsetzen und Verwunderung angeschaut. In der koreanischen Gesellschaft wäre es damals völlig undenkbar gewesen kleine Kinder in umgebauten Rucksäcken durch die Gegend zu tragen. Mit was für verrückten Ideen die europäischen Langnasen nur immer wieder ankamen.
Nach zwei intensiven Gesprächs- und Bemusterungstagen war dann eine Lösung gefunden: das Variquick-Tragesystem, erst vor wenigen Jahren für Trekkingrucksäcke von uns entwickelt, konnte auf den Rücken der Kinderkraxe übertragen werden und damit hatte Deuter seine „Kid Comfort I“. Die erste Kraxe weltweit, die variabel war und Mama und Papa passte.
Sommer 94 – Spätnachmittag im Tannheimer Tal. So schnell es irgend geht, renne ich mit meiner Tochter Julia in der „Kid Comfort“-Kraxe auf dem Rücken vom Gimpelhaus die steilen Stufen hinunter nach Nesselwängle. Die Fotoaufnahmen für den Katalog waren fertig gestellt und ich wollte Julia unten bei Ingrid abgeben, wieder hochrennen zum Einstieg am Hochwiesler um zusammen mit Bill, unserem Export Manager, am Abend noch geschwind eine der Südwandrouten dort zu klettern. Ich hatte gerade wieder eine steile Passagen im Laufschritt genommen, als plötzlich ein Schrei von Julia ertönte. Eine Naht am Prototyp der weiterentwickelten „Kid Comfort“ war gebrochen. Glücklicherweise hatte der Sitz gehalten und außer einem gehörigen Schreck bei Julia war nichts weiter passiert.
Beim Sichern an den Standplätzen am selben Abend hat mich das Ereignis intensiv beschäftigt. Wenn eine Rucksacknaht bricht, passiert nicht viel, selbst wenn der Rucksackinhalt am Boden landet. Bei einer Kinderkraxe könnte dies aber fatale Folgen haben und die Gesundheit eines Kindes gefährdet sein. Gleich montags hab ich Pit Schubert , Diplom-Ingenieur und Sicherheitspapst beim Deutschen Alpenverein, angerufen. Kurze Schilderung was geschehen war – der Pit wusste wie immer einen Rat: „Ruf doch mal den Volker Kron beim TÜV in München an.
Volker war auch Bergsteiger und wir verstanden uns auf Anhieb. Zusammen haben wir Kriterien erarbeitet um die Produktsicherheit bei Kinderkraxen zu verbessern. Volker hat selbst fünf Kinder und wusste sofort worauf es ankam. Viele Dinge gab es dabei zu beachten, die kleinen Fingerchen durften nicht im Rahmen gequetscht werden – also musste ein neues Kunststoffgelenk mit Abstandhalter her. Schadstofftests mussten durchgeführt werden, Sicherheitshinweise formuliert und irgendwo angebracht sein. Als krönenden Abschluss gab es dann noch einen Dauertest, der viele tausend Höhenmeter Bergwanderungen mit 20 Kilo schweren Kindern simulieren sollte. Ein hölzerner Dummy wurde dabei mechanisch bewegt und Aufstiegsbewegungen simuliert. Volker wollte so 20.000 Lastwechsel durchführen was 20.000 Höhenmeter Auf- bzw. Abstieg entsprach. Ein hölzernes Baby in den Sitz, vorne ein 5 Kilo Hantelscheibe aufgeklebt, dass die 20 Kilo Beladung auch erreicht wurden. Das Ganze erschien mir ziemlich martialisch und ich gab unserem Produkt höchstens eine Überlebenschance von wenigen Stunden.
Zwei Tage später habe ich angerufen und Volker nach dem Ergebnis gefragt. „Verdammt – ich war im Außendienst und hab vergessen die Apparatur abzuschalten. Ich schau mal was von eurer Kraxe übrig geblieben ist.“ 30 Minuten später der Rückruf, bei 75.000 Lastwechseln hat Volker abgestellt. Die Kraxe war noch völlig intakt, lediglich ein paar kleine Scheuerstellen an Schulterträgern und Hüftgurt seien aufgetreten, aber nichts Dramatisches. Beide waren wir erstaunt wie robust das Teil war und wie gut es sich auf den über 75.000 zurückgelegten, simulierten Höhenmetern gehalten hatte.
Als Resultat gab es das TÜV-Siegel für unser Produkt und damit hatten wir weltweit die erste auf Sicherheit geprüfte Kinderkraxe überhaupt. Damals war die Zeit als Outdoorsportarten so richtig in Schwung kamen und die jungen Eltern nahmen dieses Produkt dankbar an. Steve hat dann die Weiterentwicklung übernommen. Auch er hat drei Kinder und die sind, wie meine, dank dieser Kraxe bei und mit Outdoorsportarten groß geworden. Was einst ganz klein mit einer Idee und dann in der Produktion und Entwicklungsstätte in Saigon begann, ist mittlerweile für Deuter ein wichtiger Umsatzbringer geworden. Viele Eltern weltweit schätzen das bequeme Transportmittel für Kinder wegen seiner langen Haltbarkeit und seiner technischen Ausgereiftheit.
Auch unseren langjährigen Freund und Produktionspartner S. H. Oh freut es heute, dass wir seinerzeit diese Spinnerei aus Deutschland umgesetzt haben. In unserer gemeinsamen Produktionsstätte konnten wir allein im letzten Jahr 99.000 Kinderkraxen fertigen.
Quelle: Deuter. Vielen Dank für die Freigabe!